Wie man Verschwörungstheorien professionell analysiert
Vorwort
In diesem Buch geht es um die systematische argumentative Analyse von Verschwörungstheorien. Ich möchte den Lesern das argumentative Handwerkszeug vermitteln, um
- sich zügig eine verlässliche Einschätzung zu Sinnhaftigkeit und Qualität einer konkreten Verschwörungstheorie zu erarbeiten,
- die wirklich entscheidenden Schwachpunkte zu identifizieren,
- Unsinn schnell zu erkennen,
- die enorm wichtige Arbeit ehrlicher Aufklärer und Whistleblower nicht zu verkennen.
Warum ist das wichtig?
Verschwörungstheorien prägen zunehmend unsere öffentlichen Diskussionen. Sie bestimmen immer mehr, um welche Themen sich diese Debatten drehen. Zwei aktuelle Beispiele zeigen das in aller Deutlichkeit:
- Die öffentliche Diskussion zur Corona-Thematik ist in weiten Teilen von Verschwörungstheorien zu Existenz, Entstehung und Verbreitung des Virus beeinflusst. Gleiches gilt für das Thema Impfung. Damit meine ich nicht nur die Diskussionen, die in Leitartikeln und Talkshows stattfinden. Auch im Alltag, also im Bekannten- oder Kollegenkreis, dürften die allermeisten Leser mit diesem Phänomen bereits zu tun gehabt haben – vom Internet ganz zu schweigen.
- In den USA können wir gerade dabei zuschauen, wie eine vermutlich noch sehr lange wirkungsvolle und ausgesprochen giftige Verschwörungstheorie aufgebaut und am Leben gehalten wird. Ich rede natürlich von Donald Trumps hauseigener Variante der Dolchstoßlegende: In Wahlen unbesiegt!
Diese beiden Beispiele zeigen, wie gefährlich Verschwörungstheorien sein können. Was wir allerdings nicht vergessen sollten: Verschwörungstheorien können auch sehr heilsame Folgen haben – wenn sie stimmen. Auch dafür gibt es aktuelle Beispiele:
- Der Skandal um die Betrugsfirma Wirecard, ein sehr lange auch von Experten hoch gelobtes DAX-Unternehmen, wurde durch die hartnäckige und mutige Arbeit des Journalisten Dan McCrumb und seiner Kollegen bei der Financial Times aufgedeckt. Heute wissen wir, dass tatsächlich eine Gruppe von kriminellen Verschwörern im Vorstand tätig war, die einen gigantischen Schwindel geplant und umgesetzt hat. Aktuellen Schätzungen nach haben die Betrüger einen Schaden von etwa 13 Milliarden Euro angerichtet. McCrumb und seine Kollegen wurden lange Jahre als „versponnene Verschwörungstheoretiker“ diffamiert und von der BaFin, der zuständigen Aufsichtsbehörde, sogar angezeigt.
- Ganz ehrlich: Haben Sie auf Anhieb geglaubt, dass renommierte deutsche Autohersteller über viele Jahre hinweg die Software ihrer Motoren gezielt manipuliert haben, um die Werte bei offiziellen Abgastests zu schönen? Auch hier wurde eine betrügerische und kriminelle Verschwörung zum Schaden für Umwelt und Kunden aufgedeckt. Und auch hier wurde erst einmal versucht, die Aufklärer als Verschwörungstheoretiker abzuwerten: Es handle sich um eine perfide Kampagne der USA zur Schwächung der deutschen Autoindustrie …
Es gibt also Verschwörungstheorien, die nicht stimmen und solche, die zutreffen. In diesem neutralen Sinne verwende ich den Begriff Verschwörungstheorie in diesem Buch: Eine Verschwörungstheorie versucht gewisse Phänomene, Ereignisse, Abläufe etc. durch das Handeln von Verschwörern zu erklären. Dieser Versuch kann glücken – oder nicht.
Woran erkennt man aber, ob es sich um eine „gute“ oder „schlechte“ Theorie handelt, ob die Theorie haltbar ist oder nicht?
Diese Frage führt direkt zum Thema des Buches. Die Philosophie, genauer die Wissenschaftstheorie diskutiert seit langem diese Fragen:
- Was ist eigentlich eine Theorie?
- Was zeichnet eine gute Theorie aus?
- Wann haben wir es mit einer Pseudo-Theorie zu tun?
Diese systematische und strukturierte Herangehensweise vermisse ich – auf allen Seiten – viel zu oft in den Diskussionen zum Thema Verschwörungstheorie und möchte die Lücke mit diesem Buch schließen.
Dank
Ein donnerndes Dankeschön geht an meine Testleser Judith Faessler (Extremismusexpertin und Mitautorin von Band 2), Walter Kirchmann und Sigi Schawe.
Sie haben dieses Buchprojekt von Anfang an als Diskussionspartner und Ideengeber begleitet und zahlreiche Verbesserungen vorgeschlagen. Darüber hinaus ist es einfach sehr schön, solche Freunde zu haben …
Inhalt
In Kapitel 1 plädiere ich dafür, Verschwörungstheorien nicht grundsätzlich als Hirngespinste wegzuwischen. Wie die Beispiele Wirecard und Abgasskandal zeigen, sind zwei von mehreren großen Gefahren dabei, tatsächliche Verschwörungen ungewollt zu unterstützen und mutige Aufklärer ungerecht zu behandeln.
In Kapitel 2 erläutere ich, was eigentlich eine Theorie ist. Nicht jedes Sammelsurium an Aussagen, Anekdoten und Vermutungen verdient diesen Namen. Genauer: Welche Bausteine sollte ein ernstzunehmender Theorievorschlag aufweisen?
In Kapitel 3 stelle ich vor, wie man zügig und mit vertretbarem Aufwand zu einer rational belastbaren Ersteinschätzung der Plausibilität einer Verschwörungstheorie kommen kann.
In Kapitel 4 geht es darum, welche Eigenschaften Beobachtungen, Indizien, Daten, Belege etc. haben sollten, damit sie als qualitativ hochwertig gelten und für eine Theorie ins Feld geführt werden können. Nicht jede Behauptung aus dem Internet taugt als belastbarer Beleg.
Kapitel 5 widmet sich der zentralen Frage, unter welchen Bedingungen eine Menge an Daten und Belegen eine bestimmte Theorie tatsächlich oder nur scheinbar stützt. Das nüchterne Ergebnis: Theorien lassen sich nicht zwingend beweisen. Es gibt aber zuverlässige Kriterien zur Beurteilung ihrer Qualität – und auf die kommt es an.
In Kapitel 6 geht es um das Gegenstück zur Frage nach der Stützung einer Theorie: Unter welchen Bedingungen können wir guten Gewissens davon ausgehen, dass eine Theorie durch Daten und Belege widerlegt ist? Das erneut nüchterne Ergebnis: Theorien lassen sich nicht zwingend widerlegen. Es gibt aber zuverlässige Kriterien, um nicht haltbare oder sogar windige Theorien zu erkennen.
Kapitel 7 stellt zur Abrundung weitere Qualitätskriterien zur Beurteilung von Theorien vor.
In Kapitel 8 geht es schließlich um Rationalität und intellektuelle Redlichkeit der Vertreter von Verschwörungstheorien: Wann ist der Vorwurf der Irrationalität berechtigt? Welche Werte sollten unseren Umgang mit Verschwörungstheorien leiten – und zwar für alle Seiten? Woran erkenne ich einen Verschwörungsgauner? Gerade für Theorien mit hohem Schadenspotential ist diese Frage enorm wichtig.
Zum Abschluss eines jeden Kapitels analysiere ich zur Veranschaulichung drei konkrete Beispiele für Verschwörungstheorien im Detail: Watergate (eine zutreffende Verschwörungstheorie), Chemtrails und QAnon (beide sind nicht haltbar, unterscheiden sich aber wesentlich voneinander).
Der Schwerpunkt des Buches liegt also auf der systematischen argumentativen Analyse von Verschwörungstheorien. Meine Motivation und Hoffnung: Vielleicht kann ich damit einen Beitrag zur Ent-Emotionalisierung, Versachlichung und Qualitätssteigerung der Debatte leisten. Genau, Sie haben es erkannt: Ihr Autor ist unerschütterlicher Optimist.
Band 1 ist als Taschenbuch und als E-Book bei vielen Buchhändlern erhältlich.