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hpd.de: Die Anziehungskraft der Verschwörungstheorie

Rezension von Florian Schwarz beim Humanistischen Pressedienst

Chemtrails, gefälschte Mondlandung – aber auch Reichsbürger, Trumps gestohlener Wahlsieg und die absurden Behauptungen von QAnon: Anhänger von Verschwörungstheorien ignorieren Fakten, pflegen irrationale Weltbilder, manche werden sogar zu Mördern. Und es gibt mehr von ihnen, als man wahrhaben möchte. Umso wichtiger ist, zu verstehen, wieso sie so hartnäckig an ihren Überzeugungen festhalten. Aufschluss darüber bietet das „Dossier Verschwörungstheorie“, dessen zweiter Teil jetzt erschienen ist. Es zeigt: Auf „Verschwörungsgauner“ hereinzufallen, ist nur allzu menschlich.

Die ganze Welt, so scheint es, hat sich gegen die Vernunft verschworen. Dabei ging es mal gut voran mit der Menschheit: Der Kalte Krieg ist lange vorbei. Die internationale Gemeinschaft will die Klimakrise verhindern, der Kampf gegen Diskriminierung und Armut, für Gesundheit und Nachhaltigkeit steht ganz oben auf der Agenda der Weltbevölkerung.

Der Ausstoß von Treibhausgasen ist allerdings weltweit gestiegen. Rassismus, Sexismus etc., so heißt es, sind strukturell. Linke und Liberale reiben sich die Augen angesichts der Erfolge rechter Parteien, während sie sich selbst zerlegen im Streit über Identitäten, Geschlechter und Ölheizungen. Russland überfällt die Ukraine, Extremisten verüben Anschläge. Und die Reichen werden immer reicher. Da könnte man schon auf die Idee kommen, dass sich finstere Kräfte dazu verschworen haben, eine bessere Welt zu verhindern.

Der Gedanke, dass eine Gruppe mächtiger Figuren weltweit Regierungen und Institutionen manipuliert oder kontrolliert, ist natürlich eine „Verschwörungstheorie“, wie sie von Spinnern verbreitet wird – verblendete, verführte Menschen mit zu wenig Bildung, zu vielen Problemen und vielleicht sogar psychischen Beeinträchtigungen.

Aber stimmt das? Die Fachliteratur versucht in der Regel, ein differenzierteres Bild zu zeichnen. Ein gutes Beispiel dafür ist das „Dossier Verschwörungstheorie“, dessen zweiter Teil jetzt erschienen ist. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es erstens den Begriff der „Theorie“ auch im Zusammenhang mit sogenannten „Verschwörungstheorien“ erst einmal ernst nimmt. Zweitens versuchen seine Autoren, ihren Anhängern unvoreingenommen zu begegnen. Drittens zeigt der Band auf, wie man mit ihnen sprechen sollte und wie sich die Verbreitung ihrer Ideen bremsen oder verhindern ließe.

Im ersten Band (2021) war Andreas Edmüller, Wissenschaftstheoretiker und Dozent für Philosophie an der LMU München, der provozierenden Frage nachgegangen: „Verschwörungsspinner oder seriöse Aufklärer?“ Edmüller fordert, immer nüchtern-wissenschaftstsheoretisch zu prüfen, ob an Verschwörungstheorien etwas dran ist. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch ist eine Theorie eigentlich der Versuch, (vorläufige) Antworten auf grundlegende Fragen zu formulieren, in der Hoffnung, Gesetzmäßigkeiten erklären zu können. Sie stützt sich dabei auf möglichst viele hochwertige Daten und Informationen. Viele Fachleute lehnen den Begriff „Theorie“ in diesem Zusammenhang deshalb von vornherein ab und empfehlen, zum Beispiel von Verschwörungsmythen zu sprechen. Hier setzt sich Edmüller vom Mainstream deutlich ab: Es kommt ihm nicht so sehr auf die Bezeichnung an, sondern auf den Umgang: Auch „Verschwörungstheorien“ sollten wie Theorien in der Wissenschaft einer strengen Prüfung unterzogen werden.

Wenn es etwa um die angeblich nur vorgetäuschte Mondlandung geht, um Chemtrails, um Bill Gates‘ Pläne, Menschen mit injizierten Chips zu überwachen oder um Donald Trumps gestohlenen Wahlsieg, ist schnell klar: Die Datenlage ist schlecht. Es handelt sich Edmüller zufolge also zwar um Theorien, aber um falsche, nicht respektable Theorien. Daneben gibt es „Verschwörungstheorien“, die eindeutig nicht den geringsten Ansprüchen einer Theorie genügen. Dazu gehört etwa der ganze bizarre Nonsens von QAnon über Satanismus und Kinderpornoringe im Umfeld bekannter US-Politiker und so weiter. Edmüller bezeichnet sie als Pseudo-Theorien.

Was aber ist etwa mit der „Verschwörungstheorie“, das Coronavirus sei in einem Labor in Wuhan künstlich erzeugt worden? Tatsächlich wurde das unter seriösen Fachleuten diskutiert. Nachdem neue Informationen ans Licht kamen, beteuerte sogar der Virenexperte Christian Drosten, dass er „immer offen war für beide Möglichkeiten“, auch die Herstellung im Labor. Den natürlichen Ursprung des Virus im Tierreich hielt und hält er jedoch für wahrscheinlicher, wie er etwa der Süddeutschen Zeitung sagte. Den Ursprung im Labor zu vermuten, ist für Edmüller eine „respektable Verschwörungstheorie“. Damit gehört sie für ihn in dieselbe Kategorie wie etwa die Watergate-Affäre oder der Skandal um Wirecard. Und die NSA-Affäre hat durch Edward Snowdens Enthüllungen gezeigt, dass Sorgen vor einer umfassenden Überwachung durch Geheimdienste vielleicht keinen Aluhut rechtfertigen, aber gegen eine leichte Paranoia vielleicht nichts einzuwenden ist.

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